TTIP, CETA & co – die Demokratiebremsevon Sven Giegold (MdEP)

Die Versprechungen klingen so schön. Mehr Arbeitsplätze. Weniger
Bürokratie. Niedrigere Zölle. Soziale und ökologische Standards in der
Globalisierung mit den USA durchsetzen. Doch der Nutzen des Abkommens
ist viel geringer als behauptet und der Preis für TTIP ist trotzdem
hoch.

Der wirtschaftliche Nutzen eines Freihandelsabkommens mit den USA ist
vergleichsweise gering. Um 0,5% steigt nach 10 Jahren die
Wirtschaftsleistung in der EU, wenn man den optimistischen Schätzungen
des Münchner IFO-Instituts unter Leitung von Hans-Werner Sinn glaubt.
Selbst wenn man das Wachstum des Bruttoinlandsprodukts für keine gute
Messgröße hält, um den Fortschritt der Wirtschaft zu messen: 0,5%
liegen im Rahmen der konjunkturellen Schwankungen. Andere Studien wie
die vom gewerkschaftsnahen IMK (Düsseldorf) kommen zu Effekten knapp
über der Nachweisgrenze. Die 0,5% des IFO sind jedoch auch nur zu
haben, wenn man Standards und Regulierungen in sehr vielen
Wirtschaftsbereichen angleicht.

Standards und Zulassungsverfahren für Güter und Dienstleistungen sind
manchmal rein technisch. In diesen Fällen kann eine Angleichung
wirtschaftlich und sogar ökologisch sinnvoll sein. Warum soll der
Stecker eines Elektroautos in den USA anders sein als in Europa?
Gemeinsame Normen schaffen hier ökonomisch und ökologisch Effizienz.
Ebenso klagen besonders Mittelständler über aufwändige
Zollabwicklungsverfahren und die verbleibenden Zölle in einigen
Branchen. Hier kann man sicher Fortschritte schaffen.

Die mit TTIP angestrebte weitgehende Angleichung oder gegenseitige
Anerkennung von Standards und Zulassungsverfahren ist jedoch eine
Bremse für die Demokratie in Amerika, in Europa und in unseren
Kommunen. Denn oft sind Standards alles andere als technisch. Sie sind
in Wirklichkeit gesellschaftliche Standards, also Wertentscheidungen.
In den USA sind die Regeln für Banken nach der Finanzkrise härter
angezogen worden als in Europa. Die EU will nun die Regulierung der
Finanzmärkte transatlantisch regeln und verlangt die Aufnahme des
Themas in TTIP. Verständlicherweise bestehen die Amerikaner jedoch
darauf, die Standards für die instabilen Finanzmärkte weiterhin selbst
setzen zu können. Umgekehrt haben wir in Europa einen strengeren und
vor allem anderen Verbraucherschutz. Gentechnik kommt Gott sei Dank
kaum auf den Tisch. Die Massentierhaltung ist zwar auch bei uns ein
Desaster für Tiere und Gesundheit, aber so schlimm wie in den USA ist
es noch nicht. Auch gefährliche Chemikalien kommen dank REACH-
Verordnung der EU oft gar nicht erst auf den Markt. In den USA zahlen
dafür Hersteller von Produkten Unsummen an Schadensersatz, wenn
Geschädigte nachweisen können, dass der Hersteller schuld war. All
diese Standards sind Abwägungen zwischen wirtschaftlicher Freiheit
einerseits und Umwelt, Verbraucherschutz und sozialen Rechten
andererseits. Es ist schon ein erster Erfolg der Stopp-TTIP-Bewegung,
dass Merkel und Gabriel nun versprechen, die europäischen Standards
nicht abzusenken. Es ist aber gerade der Dreh- und Angelpunkt der
Demokratie, dass gesellschaftliche Standards immer wieder neu
verhandelt werden. Unsere Demokratie wird ärmer, wenn sie bei Wahlen
nicht mehr ernsthaft diskutiert werden, da die Erhöhung oder Senkung
von Standards immer von schwierigen Neuverhandlungen mit den
Handelspartnern abhängig sind oder schwere Wettbewerbsnachteile folgen.
Hier zeigt sich der Wert des Subsidiaritätsprinzips. Vielleicht kostet
die Unterschiedlichkeit von Standards ein klein wenig Wachstum. Aber
wir gewinnen etwas viel Wertvolleres: Eine lebendige Demokratie, die
gesellschaftliche Innovationen auf den Weg bringt, so dass Länder von
ihren Unterschieden lernen können.

Genauso fragwürdig ist es, wenn TTIP wie das internationale
Dienstleistungsabkommen TiSA die Selbstbestimmung der Staaten
einschränken soll, Dienstleistungen in öffentlicher oder
gemeinwirtschaftlicher Form zu organisieren. Deshalb ist der Deutsche
Städtetag gegenüber TTIP ähnlich reserviert wie die
Dienstleistungsgewerkschaft Verdi.

Die gemeinsame Handelspolitik mit TTIP, CETA & co muss einem
Subsidiaritätscheck unterzogen werden, wie er in den europäischen
Verträgen für das Europarecht vorgesehen ist. Nur wenn ein öffentliches
Gut durch Regelung auf höherer Ebene deutlich besser zu erreichen ist
als auf dezentralerer Ebene, kommt die Zentralisierung von Standards in
Betracht. Zur Rechtfertigung der Zentralisierung reicht die triviale
Begründung nicht aus, dass es einfacher und ein wenig billiger ist,
wenn überall gleiche Regeln gelten. Denn die beteiligten Staaten bzw.
die EU verlieren noch mehr an ihrer demokratischen Substanz, wenn immer
mehr Standards international harmonisiert sind. Auch wenn die Standards
nicht angeglichen, sondern nur gegenseitig anerkannt werden, kommt es
zum gleichen Effekt: So sind höhere gesellschaftliche Standards oft
kostenintensiv und führen für die eigene Wirtschaft
betriebswirtschaftlich zum Wettbewerbsnachteil, ohne sich vor der
kostengünstigeren Konkurrenz schützen zu können. Damit wird der
niedrigere, gegenseitig anerkannte Standard faktisch zu einem
Maximalniveau.

Sollte die Angleichung oder gegenseitige Anerkennung von Standards
tatsächlich in vielen Sektoren gelingen, so würde die europäische wie
die amerikanische Demokratie ausgehöhlt. Es würde mit TTIP & co. noch
schwerer, Fortschritte für Verbraucher, Tierschutz, Gesundheitsschutz,
Ressourceneffizienz, usw. durchzusetzen. Je weiter die Zentralisierung
von Staatlichkeit getrieben wird, umso mächtiger werden gut organiserte
Lobbys mächtiger Wirtschaftsakteure gegenüber Gemeinwohlinteressen.
Unterschiedliche Regeln sind also nicht nur ein Kostenfaktor, sondern
vor allem ein demokiratischer Eigenwert.

Die Befürworter von TTIP & co. müssen sich daher zum
Subsidiaritätsprinzip bekennen. Es muss in alle Verhandlungsmandate für
EU-Handelsabkommen aufgenommen werden.
Die Stopp-TTIP-Demo am 10. Oktober in Berlin war mit 250.000
Teilnehmer*innen die größte politische Demonstration in Deutschland
seit dem Irak-Krieg. 3,3 Millionen Europäer*innen haben die
selbstorganisierte Europäische Bürgerinitiative Stopp-TTIP
unterschrieben. Noch nie gab es so viele Unterschriften und noch nie
wurde das geforderte Quorum in so vielen Ländern überschritten. Alleine
in Deutschland haben 1,6 Millionen Bürger*innen unterschrieben. Diese
lauten Signale darf eine Politik, die zuhört, nicht ignorieren. Dabei
genügt es nicht, die Rhetorik zu verändern oder die Verhandlungen ein
wenig transparenter zu machen. Vielmehr muss es darum gehen die
Substanz der europäischen Handelspolitik vom Kopf auf die Füße zu
stellen: Technische Standards und Zulassungsverfahren gegenseitig
anzuerkennen und anzugleichen, ergibt Sinn. Die Demokratie zu
beschränken oder zu bremsen – durch exzessiven Investitionsschutz,
Einmischung in die kommunale Selbstverwaltung oder die Angleichung
gesellschaftlicher Standards – ist völlig indiskutabel. Deshalb
brauchen wir neue Verhandlungsmandate für die EU-Kommission. Der Schutz
unserer Demokratie muss in allen Verhandlungsmandaten verankert werden.

Die Abkommen mit Singapur, Vietnam und Kanada sind praktisch
ausverhandelt. Alle enthalten die rechtsstaatswidrigen ISDS-
Schiedsgerichte. Das Kanada-Abkommen CETA schützt die kommunale
Daseinsvorsorge nicht zuverlässig. Die Abkommen dürfen schon deshalb
nicht beschlossen werden.

In Deutschland müssen TTIP und nach unserer Rechtsauffassung ebenso die
anderen vorliegenden Handelsabkommen auch national ratifiziert werden.
Damit müssen neben dem Bundestag auch der Bundesrat darüber abstimmen.
Die kommenden Landtagswahlen werden daher auch Abstimmungen über TTIP,
CETA & co. Die Zivilgesellschaft, allen voran Campact, plant für die
Wahlen in BaWü eine große Kampagne an alle Haushalte. Die Meinung der
Grünen Wähler*innen ist klar: 53% finden den zunehmenden Handel von
Deutschland mit anderen Ländern sehr gut. Das ist mehr als bei allen
anderen Parteien. Gleichzeitig lehnen in Baden-Württemberg 69% unserer
Wähler*innen TTIP ab, lediglich 19% sind dafür. Diese Kombination ist
einmalig im Parteienspektrum: Grüne wollen die Globalisierung, aber
dabei die Demokratie schützen, um hohe Standards für Umwelt,
Verbraucher- und Datenschutz und Arbeitnehmer*innen auch zukünftig
weiterentwickeln zu können. Wir Grüne brauchen daher von Kommunen, über
die Länder bis zu Bund und Europa eine klare Haltung: Nur fairer Handel
ist freier Handel. Stoppt TTIP, Stoppt CETA – für einen Neustart der
Europäischen Handelspolitik.

Sven Giegold ist Sprecher der Abgeordneten von Bündnis 90/Die Grünen im
Europaparlament. Er arbeitet im Ausschuss für Wirtschaft und Währung
sowie im Verfassungsausschuss.